Die Sammlung Gerhard
Schneider gilt mittlerweile als Meilenstein in der Aufarbeitung der
Wirkungsgeschichte des Expressionismus, speziell der expressiven
Gegenständlichkeit, und weiterer Phänomene vergessener Kunst und Künstler,
die durch die wirren Zeitläufe des 20. Jahrhunderts beinahe in Vergessenheit
geraten wären. Der Mangel einer kontinuierlichen Betrachtung und
Aufarbeitung resultiert aus der Zeit der Ächtung alles Modernen in der Kunst
durch den Nationalsozialismus, den Folgen des Zweiten Weltkriegs und dem
sich anschließenden Kalten Krieg. Der Verlust von Kontinuität wurde im
Hinblick auf den Nationalsozialismus und seine Folgewirkungen zwar erkannt,
die Aufarbeitung unterschiedlich akzentuierter Verfemungen steckt aber erst
in den Anfängen. Leitfaden der Sammlung ist das Prinzip der Expressivität. Sie stellt in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts die breiteste zeitgemäße Erscheinung dar. Ihr Facettenreichtum ist beinahe unübersehbar und hat an Relevanz noch nicht verloren. Sie zu verstehen, gab es verschiedene Ansätze von Darstellungen und Bewertungen. Begriffsfindungen wie „zweite Generation des Expressionismus”, „Postexpressionismus” oder auch „expressiver Realismus” bezeugen die Schwierigkeiten einer zutreffenden kunsthistorischen Ortung. Die Anregungen durch die relativ kurze, aber innovative Zeit des eigentlichen Expressionismus (1905 bis zum Ersten Weltkrieg) fächerten sich auf in ein breites Spektrum von Farb- und Formensprachen. Die Innovationen der expressionistischen Bewegung wirkten sich nachhaltig befruchtend und in einer erstaunlich variantenreichen und eigenständigen Fortschreibung auf das Schaffen der nachfolgenden Künstlergenerationen aus. Durch den Verlauf des vergangenen Jahrhunderts wurde dieses breite Spektrum aber infolge ideologischer Verwerfungen, zweier Weltkriege und eines Jahrzehnte währenden Kalten Krieges nicht angemessen wahrgenommen und wäre beinahe gänzlich in Vergessenheit geraten. Für diese Tatsache sprach Rainer Zimmermann zu Recht von einer „verschollenen Generation“ (siehe auch vorhergehenden Text). Vergessenheit traf und trifft in Teilen auch heute noch zu, aber nicht nur auf Künstler, die Zimmermann der Stilrichtung eines „Expressiven Realismus“ zuordnet. Die Sammlung Gerhard Schneider geht darüber hinaus und versucht, den gesamten expressiven Gestaltungskanon in den Blick zu bekommen, wozu z.B. auch Anregungen aus Fauvismus, Kubismus, Konstruktivismus, ja selbst der Neuen Sachlichkeit und sogar gewisse Aspekte von Ungegenständlichkeit gehören können. Um der Rezeption der in der Sammlung vertretenen Kunst neue Perspektiven zu eröffnen, prägte der Sammler den Begriff „expressive Gegenständlichkeit“. Er meint keinen einheitlichen Stil, charakterisiert vielmehr eine künstlerische Haltung, die auf den Innovationen verschiedener Strömungen der Klassischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts fußt. Beispiele zum Variantenreichtum „expressive Gegenständlichkeit“
Dass aus dem Fundus einer privaten Kunstsammlung heraus die Gesamtschau auf ein solches Phänomen möglich wird, erscheint ungewöhnlich und mag sich zunehmend als eine Aufgabe erweisen, deren Erfüllung weit über die Möglichkeiten einzelner hinausgeht. Bislang existieren zu der Sammlung zwei Dokumentationsbände, die jedoch nur Teile der ca. 1500 Werke umfassenden Kollektion abbilden und die Thematik in Fachbeiträgen abhandeln. 1999 entstand unter dem Titel «Verfemt – Vergessen – Wiederentdeckt. Kunst expressiver Gegenständlichkeit aus der Sammlung Gerhard Schneider» (Wienand Verlag, Köln) ein erstes Grundlagenwerk. Es erschien anlässlich von Ausstellungen zum Jahrhundertwechsel in Solingen (Museum Baden) und Olpe (Kunstverein Südsauerland). Die ungeahnte Besucherresonanz und das breit gefächerte Medienecho mit Reaktionen selbst aus dem Ausland (England, Frankreich, Russland und den USA) führte bereits 2001 zu einem erweiterten und modifizierten Konzept unter dem Titel «Expressive Gegenständlichkeit. Schicksale figurativer Malerei und Graphik im 20. Jahrhundert. Werke aus der Sammlung Gerhard Schneider» (DruckVerlag Kettler, Bönen). Dieser Band begleitete und begleitet Ausstellungen in Osnabrück (Kulturgeschichtliches Museum / Felix-Nussbaum-Haus, 2001), Halle an der Saale (Staatliche Galerie Moritzburg – Sachsen-Anhaltinisches Landesmuseum, 2002), Hamm/Westf. (Gustav-Luebcke-Museum, 2002), Solingen (Museum Baden, 2003), Lübeck (Kunsthalle des St. Annen-Museums, bis 9. Mai 2004), Quedlinburg (Lyonel-Feininger-Galerie, 22. Mai bis 8. August 2004) Freiburg im Breisgau (Augustiner-Museum, 28. August bis 31. Oktober 2004). Je nach Akzentsetzungen trugen bzw. tragen die Präsentationen unterschiedliche Titel.
Die beiden Grundlagenwerke erhellen das bislang weitgehend ignorierte Phänomen „expressive Gegenständlichkeit“ auf dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts. In der Sammlung sind bis heute zur Vergegenwärtigung der historischen Dimension über 200 Bilder von Künstlern zusammengetragen, deren Blicke aus eigenem Erleben, individuell, unbestechlich und paradigmatisch die Zeit spiegeln: Vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs über die nachfolgende Revolution, die gesellschaftlichen Spannungen der 1920er und frühen 1930er Jahre, die grausame Zeit des Naziregimes mit seinem Rassenwahn und den Gräueln des Zweiten Weltkrieges bis hin zu den Folgen der Teilung Deutschlands und der Kritik an der Wohlstandgesellschaft. Dabei erstaunt nicht nur der einmalige Dokumentationscharakter, sondern vor allem das künstlerische Niveau. Die Bedrängungen der Zeit haben eine Reihe von Künstlern zu bislang übersehenen oder verdrängten Meisterleistungen getrieben.
Diese Künstlerischen Bilddokumente zum Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts geben zugleich die kunst-historische Kulisse ab, auf deren Hintergrund, das Jahrhundert durchziehend, sich eine stets wandelnde und zugleich doch aus einem Ursprung gespeiste Farb- und Formensprache etabliert hat, die keinem Ismus verpflichtet, in erster Linie von einer künstlerischen Gestaltungshaltung geprägt ist. Ohne die erfahrbare und erlebte Welt durch totale Abstraktion zu ignorieren, wissen sich die Künstler „expressiver Gegenständlichkeit“ sehr wohl den Innovationen der Moderne, insbesondere Expressionismus und Kubismus, verpflichtet, und schreiben sie jenseits eines festgelegten Stils fort. Den für diese offene Gestaltungshaltung gegenüber der sichtbaren Welt vom Sammler eingeführte Begriff „expressive Gegenständlichkeit” stellte der Münchner Kunsthistoriker Matthias Arnold auf den Prüfstand und bezeichnete das Phänomen als „die ignorierte Parallelkunst des 20. Jahrhunderts”. Im Wissen um die historischen Verwerfungen dieser Zeit gliedert sich die Sammlung in drei Bereiche. Das Kernstück bilden die von den Nationalsozialisten initiierten Aktionen zur „entarteten Kunst“, aber auch die Folgewirkungen dieses historischen Desasters: Wirkungen eines neuen Bildverständnisses durch Expressionismus und Kubismus bis 1925
Verfemte und übergangene figurative Kunst von den 1920er Jahren bis 1945
Die nach der Etablierung und Verfestigung der Naziherrschaft ab etwa 1936 erfolgte Beschlagnahme von über 20.000 Kunstwerken von ca. 1400 Künstlern aus Museen und öffentlichen Galerien und ihre Anprangerung in vermeintlichen Schandausstellungen – Höhepunkt war die despektierliche Darbietung „Entartete Kunst“ 1937 in München, zuvor und andernorts auch als „Schreckenskammer der Kunst“ bezeichnet - richtete sich vor allem gegen die im und als Expressionismus entstandenen Formensprachen: Ausdruckssteigerung durch das Deformationsprinzip und Abrücken von der Lokalfarbigkeit. Jede Kunst, die in dieser Hinsicht auch nur verdächtig war, wurde als „degeneriert“ angesehen. Sie entsprach nicht dem vermeintlichen Ideal der „arischen (nordisch-deutschen) Herrenrasse“. Der Wahnvorstellung einer Reinerhaltung „deutschen Volkstums“ zufolge wurde jede expressive Gestaltung als „entartet“ gebrandmarkt. Von Juden erstellte Kunst galt von vornherein als „entartet“. Bildbeispiele von Künstlern, die auf der Ausstellung „Entartete Kunst“, 1937 in München vertreten waren
Diese Verfemungs- mit zum Teil folgenden Vernichtungsaktionen richteten sich sowohl gegen die Avantgarde der ersten beiden Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts als auch gegen viele jüngere Künstler in ihrer Nachfolge. Letztere traf es oft härter als ihre expressionistischen „Väter“, weil die eigentliche Würdigung ihres Schaffens als Nachgeborene noch gar nicht hatte stattfinden können. Öffentlich diskreditiert und aufgrund persönlicher Repressalien ging ein Teil ins Ausland; die Mehrheit zog sich in die innere Emigration zurück. Das Leben manches jüdischen Künstlers endete im Konzentrationslager, das etlicher derer, die in den Krieg geschickt wurden, im Fronteinsatz. – Niemand wird mehr ermessen können, wie viele Kunstwerke schließlich im Bombenhagel vernichtet wurden und in welchem Umfang frühe Lebenswerke durch die Vertreibung verloren gingen. Was heute an Kunstwerken der jüngeren Generation der Moderne erhalten geblieben ist, beruht zumeist auf Zufällen. Aus der Rückschau betrachtet, implizierte das historische Desaster auch eine nie wieder einzuholende kunsthistorische Dimension.
Bildbeispiele von Künstlern, die von den Nazis in die Emigration getrieben
wurden
Die zusätzliche, weitergehende Tragik beginnt für die um 1900 Geborenen jedoch erst nach dem Ende der Nazi-Diktatur. Die Teilung Deutschlands spielt dabei insofern eine Rolle, als im Zuge der Ost-West-Konfrontation auch ein unterschiedliches deutsches Kunstbewusstsein propagiert wurde. In den „frühen Jahren“ nach dem Krieg besann man sich verständlicherweise zunächst auf die älteren, bereits Arrivierten, die ab 1933 in erster Linie öffentlich Verfemten. Im Westen rückten dazu ab etwa 1948 vor allem durch die nachfolgende Generation Spielarten ungegenständlicher Malerei mehr und mehr in den Vordergrund. Sie entwickelten sich für viele zu einem interessanten Experimentier- und Provokationsfeld. Unterstützt wurden sie dabei von Kunsthistorikern wie Franz Roh, Will Grohmann oder Werner Haftmann, die der an der konkreten Welt orientierten Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg ein Daseinsrecht im Sinne einer Bedeutung für die Kunstgeschichte absprachen. Teilweise setzte man gegenständliche Kunst undifferenziert wahrheitswidrig mit faschistischer Kunst gleich. Daran zerbrach z.B. ein Künstler wie Karl Hofer. der selbst die Härte der Verfemung während des Nationalsozialismus erdulden musste. Dieses ist heute noch in Teilen ein unaufgearbeitetes, brisantes Feld, auf dem erst seit den 1980er Jahren nach und nach ein Umdenken und auch eine neue Wertung erfolgt. Nach 1945 in der Bundesrepublik entstandene Arbeiten
Im Osten verordnete man analog zu dem sich stabilisierenden kommunistisch-sozialistischen Staat für die Kunst einen sozialistischen Realismus. Er war im Bereich des östlichen Siegers von Stalin bereits seit den 1930er Jahren als staatstragend kreiert worden. Lediglich mit anderen ideologischen Vorzeichen versehen, handelte es sich um eine Kunstdiktatur wie im Nationalsozialismus. Beide Male forderte man eine vordergründig-oberflächliche, eine naturalistisch-seichte Kunst als Mittel zum Zweck der Einflussnahme ein. Die Künstler sollten ihr Schaffen in den Dienst der kommunistischen Ideologie und den Aufbau und die Förderung der sozialistischen Gesellschaft stellen. Im Mittelpunkt hatte das Volk mit seinen „Helden der Arbeit“ zu stehen. Wer sich in der DDR nicht an das Gebot eines abbildenden, z.T. auch die Wirklichkeit schönenden Realismus hielt, wurde als „Formalist“ abqualifiziert. Das meint: Künstlerisches Gestalten, künstlerisches Formen darf nie den Vorrang vor der darzustellenden Wirklichkeit eines „naiv-plakativen“ Realismus haben. Auch dies bedeutete einen Todesstoß für jede freie Entfaltung von Kunst. Und wiederum gab es auch hier selbstbewusste Künstler, die ihrem individuellen Schaffen einen höheren Rang beimaßen als dem verordneten Einerlei. In der SBZ bzw. DDR entstandene Arbeiten
Karl
Ortelt und die Situation in der DDR Fazit der Situation nach 1945: Durch jüngere Untersuchungen ist belegt, dass die nicht-gegenständliche Kunst (die nur bedingt richtig „abstrakte“ Kunst genannt wird) im Kalten Krieg gegen den im Osten verordneten „sozialistischen Realismus“ instrumentalisiert wurde. Ungegenständlichkeit wurde nicht nur als Ausweis der Freiheit verstanden, sondern als „Ziel“ jedes Kunstschaffens postuliert. Im Osten brandmarkte man die sogenannten „Formalisten“ als „Vertreter der im Verfaulen begriffenen Kunst des Kapitalismus“. Insgesamt lässt sich für die Kunstgeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland ein im weitesten Sinne „Deutsches Übel“ konstatieren. Es steckte in den Heilserwartungen und gewissermaßen Zwangsverordnungen politischer, aber auch vermeintlicher kunsthistorischer Großkritiker. Die Sammlung Gerhard Schneider verdeutlicht, inwieweit fast zwei Künstler-Generationen mehrfach zwischen die Mahlsteine der Geschichte gerieten und wie die Kunstgeschichtsschreibung an vielen der um 1900 Geborenen aus verschiedenen Gründen vorbeiging. Zu Beginn des 21sten Jahrhunderts gilt es, aufgrund eines entsprechenden historischen Abstands den Horizont zu erweitern, ggf. Übersehenes aufzuarbeiten, dadurch neue Akzente zu setzen bzw. Tendenzen neu zu gewichten. Wenn der Expressionismus heute als wesentlich deutsches Kunstphänomen zunehmend Weltgeltung erfährt, bleibt zu fragen, inwieweit auch seine kunsthistorischen Erben, die diese Kunst oft mit eigenen Akzenten fortschrieben, in ihrer Bedeutung nachhaltiger zu würdigen sind. Dr. Fritz Jacobi, der angesehene Kustos der Neuen Nationalgalerie, Berlin, stellt in einem Gutachten zur Bedeutung der Sammlung u.a. fest, „dass sie Werke einer künstlerischen Sprachform in sehr gründlicher und oft schwieriger Weise zusammengetragen hat, die für die deutsche Kunst eine geradezu zentrale und fundamentale Wertigkeit besitzt. ... diese Sammlung (stellt) einen hochinteressanten Querschnitt durch das Gesamtgefüge einer Kunstströmung dar, die im vorigen Jahrhundert zu den entscheidenden, tragenden Kräften eines künstlerischen Sensoriums gehörte, das sowohl formal als auch inhaltlich-thematisch auf die Kunst- und Gesellschaftsentwicklungen der Zeit reagierte. Die kunst- und kulturhistorische Leistung dieser Kollektion besteht deshalb in hohem Maße darin, dass Werke von Künstlern zusammengeführt wurden, die zum Teil zu den namhaften Vertretern deutscher Kunst des 20. Jahrhunderts zählen und zu einem anderen Teil aber noch zu wenig bekannt sind, obwohl ihre Arbeiten von einer beachtlichen Qualität geprägt werden. Damit ermöglicht die Sammlung Schneider eine erstaunliche Fülle von ‚Entdeckungen’ und die Hebung von ‚Schätzen’, die zur wichtigen Erweiterung unserer Kenntnisse vom Umfang und der Intensität dieser Kunsthaltung beitragen.“ So wundert es nicht, wenn sein Fazit lautet: „Es sollte alles getan werden, diese Sammlung in ihrer Gänze zu bewahren und in angemessener Form der Öffentlichkeit – und das gilt insbesondere für die nachwachsenden Generationen und ausländische Besucher, die sich mit deutscher Kunst und Geschichte vertraut machen wollen – zugänglich werden zu lassen.“ |